Klimawandel und technologische Singularität. Zwei ungleiche Dystopien.

Dr. Gero Kollmer
4 min readMar 30, 2021

oder: Wenn die Computer herrschen werden, welches Klima sollten wir ihnen hinterlassen?

Das unerkannte Unbekannte.

Wer kennt das nicht: man wird von einer Angst geplagt, die Gefahr bereitet einem wochenlang schlaflose Nächte. Am Ende stellt sich heraus, dass die Sorge unberechtigt war und alles wird gut.

Umgekehrt wird man plötzlich und unerwartet ins Unglück gerissen, das Schicksal schlägt ohne Warnung zu. Eine Diagnose, eine Kündigung, ein Steuerbescheid, eine Anklage.

Mit anderen Worten: meist wird man von dem Zug überfahren, den man nicht sieht. Was an sich erst einmal wenig überraschend ist.

Manchmal konzentriert man sich auch auf ein kleineres, unmittelbares Problem, damit man sich der großen Aufgabe zumindest jetzt nicht stellen muss. Also z.B. aufräumen anstatt die Steuererklärung endlich zu machen.

Starrt die Menschheit auf eine Gefahr, und übersieht sie dabei eine ungleich größere?

Dystopien unserer Zeit.

Jede Zeit hat ihre Dystopien. In meiner Kindheit waren das der drohende nukleare Schlagabtausch und die Überbevölkerung. In Deutschland kam noch das Waldsterben hinzu. Später dann das Ozonloch.

Es gibt zwei große Dystopien in unserer Zeit. Das sind der Klimawandel und die technologische Singularität.

Die was?

Das Erstaunliche ist, dass inzwischen jedem Kind der Klimawandel ein Begriff ist. Die Singularität hingegen wird außerhalb interessierter Kreise weitgehend ignoriert. Dabei ist sie das grundlegendere und womöglich viel unmittelbarere und dringendere Problem. Es ist alles andere als eine Zukunftsphantasie, fast alle Zukunftsforscher rechnen mit diesem Ereignis, Uneinigkeit besteht nur über den Zeitpunkt des Eintritts und über einen Teil der Auswirkungen. (Daher kann es sein, dass Sie davon noch nicht gehört haben, das Konzept kann im Rahmen dieser kurzen Abhandlung nicht behandelt werden, Wikipedia hilft auch hier weiter.)

Der Klimawandel wird der Menschheit zu schaffen machen. Die Singularität aber wird die Menschheit beenden.

Der Klimawandel führt mit großer Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Problemen.

Die Singularität hingegen wird uns sicher dahinraffen.

Zwei Weltuntergänge konkurrieren.

Wenn wir uns klarmachen, dass beide Ereignisse fast sicher eintreten werden, also zum einen die Menschheit durch die Technologie gänzlich überflüssig wird, und zum anderen, dass der Planet sich so weit erwärmt, dass es zu erheblichen Beeinträchtigungen für die Menschen kommt, fragt sich, wie wir die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden großen Herausforderungen sehen.

Können wir wirklich die Fragen isoliert betrachten?

Folgende Fragen stellen sich:

- sind es zwei disjunkte Probleme, stehen sie also ohne Wechselwirkung nebeneinander?

- sind die Probleme von vergleichbarer Relevanz ?

- stehen die Probleme vielleicht sogar in einem Exklusivitätsverhältnis zueinander? Also kann nur EINES der Probleme relevant werden?

Der Wettlauf der Weltuntergänge.

Die Beantwortung der Frage hat auch etwas mit Zeitablauf zu tun. Sollte die technologische Singularität erst in 500 Jahren zu erwarten sein und der Klimawandel uns bereits in 50 Jahren schwer zu schaffen machen, lohnt es sich, etwas für das Klima zu tun. So können wir unseren Nachfahren noch ein paar Jahrhunderte geopolitische Stabilität gönnen, oder zumindest eine der Voraussetzungen dafür.

Zu beiden Entwicklungen gibt es, was den Zeithorizont betrifft, nur Schätzungen.

Der Klimawandel hat bereits eingesetzt, doch scheint ein tipping point noch nicht erreicht oder auch nur für die Lebzeiten unserer Kinder in Aussicht zu sein. Der Meeresspiegel steigt um 3 mm jährlich, in 330 Jahren wird er um einen Meter gestiegen sein. Gerade noch Zeit, um den einen oder anderen Deich zu bauen, sonstige wirksame Technologien zu entwickeln oder uns anzupassen. Es kommt hinzu, dass wir es hier um einen linearen Prozess zu tun haben oder um einen Prozess, der erst später einen exponentiellen Verlauf annehmen wird — wenn überhaupt.

Die Singularität ist der Punkt, an dem Rechenleistung sich autonom reproduzieren wird und die technologische Entwicklung in einem so rasanten Tempo autonom vorantreiben wird, dass in wenigen Sekunden viel größere Sprünge erfolgen werden, als die Menschheit in den letzten 6.000 Jahren vollbracht hat. Die älteste Schätzung nimmt diesen Zeitpunkt für 2045 an. Das scheint wohl zu pessi-/optimistisch zu sein, da die Künstliche Intelligenz nach Ansicht von Fachleuten noch in den Kinderschuhen steckt. Die Rechenkapazität ist also da, aber die Software hinkt noch hinterher. Wenn aber der Punkt eintritt, wird die Kurve so exponentiell sein, dass sie von einem vertikalen Verlauf nur wenig abweichen wird. Wir reden von einer explosionsartigen Entwicklung, die in wenigen Minuten, Stunden und Tagen alles verändern wird. Wann der Punkt erreicht sein wird, wissen wir nicht, aber 500 Jahre wird es nicht mehr dauern. Eher 100. Oder 50. Wenn die letzten von uns es konkret kommen sehen werden, werden wir es unseren Enkeln vermutlich nicht mehr erzählen können.

Zurück zum Ausgangspunkt:

Spielt es dann noch eine Rolle, welches Klima wir möchten?

Es kommt darauf an, von welcher Perspektive wir sprechen.

Die Menschheit wird es entweder nicht mehr geben — denn sie bietet der dann mächtigeren künstlichen Intelligenzen keine Vorteile mehr und verbraucht dennoch Ressourcen — oder wir werden Geduldete sein (die sehr optimistische Variante), die sich sicher kein bestimmtes Klima werden wünschen dürfen. Immerhin wird die KI vermutlich rational und damit nicht sadistisch veranlagt sein, so dürfte es zumindest sehr schnell gehen.

Die künstlichen Intelligenzen werden vermutlich dasjenige Klima herstellen, das ihnen selbst am Nützlichsten ist. Welches Klima das sein wird, können wir nicht wissen. Denn das hängt davon ab, ob die KI ein Trägermaterial und physikalische Prozesse braucht und welche das sein werden — etwas, was wir unmöglich prognostizieren können.

Letztlich werden wir das nicht entscheiden müssen, nicht nur, weil wir es nicht können, sondern weil die Variante der KI, die sich durchsetzen wird, mächtig genug sein wird, um sich jedes Klima zu schaffen.

Gero Kollmer

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Dr. Gero Kollmer
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Dr. Gero Kollmer ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht.